Welchen Einfluss hat die Gesellschaft auf die Entwicklung der Landwirtschaft?
Entwicklungen der Motorisierung, der Kunstdüngung und im chemischen Pflanzenschutz veränderten seit den 1950er Jahren in nur wenigen Jahrzehnten die Agrarwirtschaft nach den Grundprinzipien der industriellen Produktion und damit auch das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, Stadt und Land. Der Arbeitsaufwand reduzierte sich um mehr als 90 Prozent, der Anteil der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft ist von 40 Prozent auf weniger als zwei Prozent geschrumpft. Gleichzeitig ist die Produktivität gestiegen: Ernährte ein Landwirt vor etwa 100 Jahren noch vier Menschen, sind es heute fast 140.
Mit der Schrumpfung landwirtschaftlicher Arbeitskraft durch die Modernisierung setzte auch die Abwanderung von Arbeitskräften in die Städte ein. Landflucht ist schon ein Thema des frühen 19. Jahrhunderts, als sich arme Bauernfamilien, befreit von der Feudalherrschaft, aber ohne Grundbesitz, in ein vermeintlich besseres Leben in die Stadt aufmachten. Mit dem „Strukturbruch“ in den 1960er Jahren geriet die Abwanderung aus dem ländlichen Raum erneut in den Blick, der man diesmal mit einer Modernisierung der sozialen, kulturellen und technischen Infrastruktur entgegenzuwirken versuchte. Mit der Jahrtausendwende und den anhaltenden Innovationen in den Arbeits- und Wirtschaftsstrukturen, setzte die Abwanderung erneut ein.
Heute ist die Gewinnung qualifizierter Arbeitskräfte und Unternehmensnachfolger:innen eine der größten Herausforderungen. Knapp die Hälfte der landwirtschaftlichen Einzelunternehmen in Thüringen werden von 55-jährigen oder älteren Betriebsinhaber:innen geführt. Bei ¾ der Betriebe ist die Weiterführung des landwirtschaftlichen Betriebes ungewiss oder es gibt keine Nachfolger:innen. Gründe dafür liegen in veränderten Lebens- und Arbeitsansprüchen sowie an den teilweisen geringen Verdiensten vor allem als Angestellte. Gleichzeitig stellt der Zugang zu eigenem oder gepachtetem Land ein erhebliches Problem vor allem für Junglandwirt:innen dar. Die Betriebe und Flächen sind oft zu groß und die Übernahmen und Preise zu teuer.
Das wertvolle Gut Boden ist stark begehrt. Energie- und Nahrungsmittelproduktion, der Siedlungs-, Gewerbe-, Logistik- und Straßenbau, der Naturschutz, der Hochwasserschutz, der Landschafts- und Ressourcenschutz und der Tourismus konkurrieren darum. Nach Europäischer Vereinbarung soll der tägliche Zuwachs der Siedlungs- und Verkehrsflächen in Deutschland bis 2020 auf 30 Hektar zurückgehen. Das Ziel für Thüringen wäre dementsprechend eine Reduktion des täglichen Zuwachses auf circa 1 Hektar. Bis 2004 wurde dieser Zielwert erreicht, seitdem steigt er an. In 2019 lag der Wert bei 1,9 Hektar/Tag. Den größten Verlust an Fläche verzeichnen dabei die Wiesen- und Weidenflächen.
Von den 16.202 Quadratkilometern an Bodenfläche Thüringens sind rund 54 Prozent Landwirtschaftsfläche. Mehr als die Hälfte der Landwirtschaftsfläche Thüringens wird von 6 Prozent der Betriebe bewirtschaftet. Diese verfügen über eine durchschnittliche Flächenausstattung von 1.000 Hektar und mehr, die durchschnittliche Betriebsgröße liegt bei 1.785 Hektar. In Thüringen weicht die Agrarstruktur infolge der historischen Entwicklung vom Bundesdurchschnitt ab. Im heutigen Freistaat wurde in den 1950er Jahren die erste Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) der DDR gegründet – eine zunächst freiwillige, später Zwangskollektivierung der Bauern, die zu einer Umstellung der bäuerlichen hin zu einer sehr großflächigen, industriellen Landwirtschaft in der gesamten DDR führte. So ist in Thüringen mit 209 Hektar Landwirtschaftsfläche die mittlere Betriebsgröße knapp dreimal so hoch wie der Bundesdurchschnitt mit 60 Hektar/Betrieb.
Der landwirtschaftliche Bodenmarkt ist deutschlandweit von steigenden Grundstücks- und Pachtpreisen geprägt. Preistreibende Faktoren sind die internationale Niedrigzinspolitik, die steuerrechtliche Begünstigung von Anteilskäufen sowie die an Höchstpreisen orientierte Privatisierung von Flächen durch die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG). In Thüringen sind gleichzeitig von den 774.830 Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche circa 75 Prozent Pachtflächen. In den neuen Bundesländern konnten Flurbereinigungsverfahren bislang nicht flächendeckend erfolgen. Mit Hunderten von Pächter:innen müssen in regelmäßigen Abständen immer wieder Einzelpachtverträge ausgehandelt werden. Das führt zu ökonomischer Unsicherheit, weniger Flexibilität in der Erprobung neuer Anbaumethoden oder langfristiger Umstellungen. Zudem bedeutet es einen hohen Kommunikationsaufwand. Abhängig von der regionalen Bodenwertlage fließt indirekt ein Teil der EU-Direktzahlung deshalb an die Verpächter und nicht an die Landwirt:innen.